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Matthias Degen

Bigaku Teil 2: Wabi – Zufriedenheit mit dem Einfachen und Unvollkommenen

Aktualisiert: 17. Jan. 2023

örtlich bedeutet Wabi (侘) „einsam, traurig, elend, ärmlich oder heruntergekommen aussehen“. Wabi impliziert Armut und man kann sich in diesem Zusammenhang die Einsamkeit des Einsiedlerlebens in der Natur vorstellen, entfernt von der normalen Gesellschaft. Unter Einfluss des Zen-Buddhismus wandelte sich die negative Deutung des Begriffes und auf das ärmliche Einsiedlerleben und die Abgeschiedenheit vom alltäglichen Trubel wurde ein positiver Blick geworfen. Wabi entspricht der elementaren Gelassenheit eines sanften Frühlingsregens auf dem Dach einer rustikalen Hütte. Wabi symbolisiert nun nicht mehr das Fehlen von materiellen Besitztümern, sondern vielmehr die Nicht-Abhängigkeit davon. Wabi ist keine erzwungene Armut, sondern eine freiwillige. Wabi verweist nicht auf Askese, sondern auf Mäßigung. Wabi ist eine leise Zufriedenheit mit den einfachen, alltäglichen und unscheinbaren Dingen.



Für mich wiederspiegeln klassische Kampfkunst-Dojos diesen Gedanken. Die Räumlichkeiten sind eher schlicht eingerichtet. Sie sind sauber und geordnet, aber nicht übertrieben. Mit Wabi verbinde ich nicht Glattheit oder die Reinlichkeit eines Krankenhauses. Die Natur und das Leben sind unregelmäßig, sprunghaft und nach den Maßstäben der meisten Menschen unvollkommen. Wabi findet in dieser Unvollkommenheit tiefe Bedeutung und Schönheit. Warum sollte man eine Tasse nur wegschmeißen, weil sie einen kleinen Sprung hat? Wabi fördert die Zurückhaltung. Das Abschütteln der Abhängigkeit von materiellen Besitztümern und die Akzeptanz von Unvollkommenheit befreit vom Anspruch, zu glänzen oder eine scheinbare Perfektion erfüllen zu müssen. Der Fortschritt eines Kampfkünstlers zeigt sich deshalb auch darin, ob er ständig sein Können zur Schau stellen muss oder nicht und ob er seine Fehler eingestehen kann. Wabi entspricht eher der Subtraktion, als der Addition. Um den Anspruch von Wabi zu erfüllen, werden in der Ausstattung von Räumen an Wänden nicht weitere Kunstwerke hinzugefügt, sondern eher eine Wand zurückgesetzt und in eine Nische gesetzt. Auch in den Kampfkünsten geht es nicht nur darum, wie viel man übt und wie viele Techniken man kann, sondern auch darum, Vorurteile abzubauen und alles Unnötige an Bewegung, Kraft und Tun wegzulassen. Wabi ist nicht objektiv zu erkennen, wie Sabi (eine andere ästhetische Idee, die ich in einem späteren Artikel vorstellen werde). Es ist eine Art, die Dinge und das Leben zu betrachten, seine Aufmerksamkeit zu schärfen und auch die Kleinigkeiten zu erkennen. Mit Wabi drückt man die Idee aus, dass hohe Qualität oder Schönheit nicht sofort ins Auge springen müssen. Gewisse Dinge erkennt man erst auf den zweiten Blick. Sie entsprechen nicht der neuesten Mode, sind weder ausgefallen noch protzig. Sie bieten sich einem nicht an, sondern sie müssen erobert werden. Man muss sich ihnen mit Aufmerksamkeit widmen, um ihre innewohnenden Qualitäten zu erkennen. Im Vorbeigehen wird man diese Dinge nicht wahrnehmen.


Viele Aspekte des Kampfkunst-Weges sind einfach und zurückhaltend. Die traditionelle Übungskleidung benutzt keine modischen Schnitte und Farben oder besondere Aufnäher, um sich auszuschmücken oder besser auszusehen. Für Wettkämpfe und Vorführungen werden die Kampfschreie und Techniken in den Formen (Kata) oft übertrieben und zur Schau gestellt. Die klassischen Rituale und Kata der Kampfkünste haben aber eigentlich keine pompösen oder überladenen Gesten und Bewegungen. Sie sind per se nicht dafür geschaffen worden, um ein nach Unterhaltung und Spektakel suchendes Publikum zu beeindrucken. Man muss sich mit der Kampfkunst beschäftigen, um die Qualitäten dieser Formen zu entdecken. Und man muss seine Achtsamkeit gegenüber den kleinen Gesten des Lehrers verfeinern, um seine Lehre besser zu verstehen. Übende, die keinen Genuss im Alltäglichen finden (z.B. in der täglichen Übung), werden den Weg der Kampfkünste selten lange beschreiten. Doch für alle anderen kann diese Zufriedenheit mit dem Einfachen eine Quelle spirituellem Reichtums sein.


Matthias Degen

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