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Bigaku Teil 5: Yûgen - unergründliche Tiefe und subtile Anmut

Im fünften Teil meiner Betrachtung über den Zusammenhang von japanischer Ästhetik (jap. Bigaku 美学) und der Kampfkunst komme ich zu einem Begriff, der etwas beschreiben soll, das nicht zu beschreiben ist. Yūgen (幽玄) lässt sich mit mystischer Zauber oder unergründlicher Tiefe übersetzen. Der Begriff taucht erstmals in chinesischen Texten (chin. Yōuxuán) auf, wo er zumeist eine buddhistische oder daoistische Wahrheit jenseits des intellektuellen Verständnisse bedeutete. In den japanischen Künsten wurde Yūgen dann in unterschiedlichen Zusammenhängen genutzt.

Für Zeami Motokiyo (世阿弥 元清,1363–1443), einem der einflussreichsten Dramatiker & Schauspieler Japans, war Yūgen eines der Hauptprinzipien des -Theaters (能): jene erhabene Stufe des Schauspiels, die den "einzigartigen Zauber erblühen" lässt. In seiner Schrift Kyūijidai (九位次第 - der neun Stufen Folgen) teilte Zeami die Kunst des -Schauspiels in drei mal drei Stufen ein*:


Die unteren drei Stufen:

  1. Grob und bleiern (jap. Soen 麁鉛)

  2. Stark und grob (jap. Gōso 強麁)

  3. Stark und fein (jap. Gōsai 強細)

Die mittleren drei Stufen:

  1. Seichtes Muster (jap. Senmon 浅文)

  2. Weitumfassend durchdringend (jap. Kōshō 廣精 / 広精)

  3. Aufrichtige Blume (jap. Shōka 正花)

Die oberen drei Stufen

  1. Geruhsame Blume (jap. Kanka 閑花)

  2. Begnadet tiefe Blume (jap. Chōshinka 寵深花)

  3. Mysteriöse Blume (jap. Myōka 妙花)

In dieser Einteilung, wie auch in anderen seiner Schriften, benutzt Zeami die Blume (jap. Hana 花) als Zeichen für Schönheit und Anmut in der Bühnenaufführung. Und die höchste Stufe des Schauspiels ist die mysteriöse Blume. Diese Stufe soll nach Zeami sehr selten sein und nur von den Größten der Tradition erst nach Jahrzehnten der engagierten Praxis der Kunst erreicht werden können. Dann besitzen sie eine Spontanität, Natürlichkeit & Anmut, die einem in dieser künstlichen und in seinem Rahmen sehr festgelegten Ausdrucksform, überrascht. Sie verkörpern Yūgen.


In gewisser Weise kann man die Stufeneinteilung von Zeami auch als Budōka nachvollziehen und auf ein Kampfkunstleben übertragen: Zunächst haben Kampfkunstschüler und -schülerinnen Potential, aber sie sind grob und stumpf. Mit der Zeit gewinnen die geübten Techniken & Fertigkeiten an Wirkung & Stärke, doch sie sind nicht tief ausgearbeitet und deshalb immer noch grob. Üben sie weiter, dann werden die Techniken stärker und feiner. Schließlich entwickelt sich eine gewisse Art, Dinge auszuführen, die andere als Muster erkennen können. Diese Muster sind zunächst seicht, weshalb Kampfkunstübende auf der Stufe sehr ausrechenbar sind. Fortgeschrittene haben es mit ihnen im Freikampf oft leichter, als am Anfang. Mit der Zeit gewinnen die Muster an Tiefe und werden umfassender. Mit viel Hingabe und Einsatz wird vielleicht eine erste Form der Meisterschaft erreicht. Auf dieser Stufe sind Budōka beeindruckend, aber andere können klar nachvollziehen, wie es dazu kommt. Doch dies ist nicht das Ende der Entwicklung. Budōka auf der ersten oberen Stufe sind wirkungsvoll, aber nicht mehr beeindruckend. Sie machen irgendwie nichts Besonderes und es sieht so aus, als würden sie sich gar nicht anstrengen. Auf dieser Stufe wollen und müssen die Kampfkunstübenden ihre Fähigkeiten nicht zur Schau stellen. Nur wenige begnadete Budōka klettern auf die nächste Stufe. Sie haben die Kapazität (jap. Utsuwa 器) und das Glück, das fast allen anderen fehlt. "Schnee decket tausend Berge, und ein einzelner ist nicht weiß", sagt Zeami dazu. Und doch ist es nicht die letzte Stufe. Erst hier gibt der Budōka seinen Handlungen etwas Bestimmtes, so dass man die hohe Kunst spüren kann, aber zu fassen bekommt man sie nicht. "Des Geheimnisses noch tieferes Geheimnis ist das Tor, durch das alle Wunder (妙, chin. Miào, jap. Myō) hervortreten" heißt es im Dàodéjīng.


Wenn ich die Kampfkunst anschaue, dann habe ich ein riesiges Paket an Dingen, die ich üben kann: traditionelle Formen, unzählige Kampfkunsttechniken, Beweglichkeits-, Kraft- & Konditionstraining, Achtsamkeitsübungen, Übungen für Freikampf und Selbstverteidigung sowie unzählige Möglichkeiten, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern. Zusätzlich zu all dem Praktischen kommen auch noch theoretische Studien. Dies finde ich alles interessant und natürlich reicht ein einzelnes Leben nicht aus, um dies alles in Tiefe zu üben und zu studieren. Und trotzdem beschreibt diese Aufzählung nicht, um was es mir essentiell in der Kampfkunst geht. Und all das macht auch unsere Übung nicht unbedingt zu einer Kunst. Für mich geht es um diese wunderbare Blume von der Zeami spricht.

Wenn man die Schriftzeichen von Yūgen einzeln betrachtet, kann man 幽 mit "dunkel, tief, undeutlich" übersetzen und Gen 玄 mit "mysteriös, geheimnisvoll und schwarz". Dunkel und geheimnisvoll ist Yūgen, wie ein tiefer Brunnen. Wir schauen von oben hinab und wissen nicht, ob der Boden gleich da ist oder ob es ewig weit hinuntergeht. Es beschleicht uns ein komisches Gefühl, dort hinunterzuschauen, nicht nur wegen der möglichen Tiefe, sondern wegen der Unsicherheit, die wir haben. Wir wissen einfach nicht, wie es da unten wirklich aussieht. Das ist das Gefühl, das ich als Anfänger bei Sensei Werner Lind hatte. Meisterschaft in einer Kunst ist für mich nicht messbar. Es ist etwas anderes, als der Rekord von Spitzenathleten und- athletinnen. Die Rekorde sind beeindruckend, aber selten mysteriös. Bei Yūgen schimmert jedoch etwas im Hintergrund, das auch ein wenig unheimlich ist. Man kann dieses Gefühl, das man hat, nicht in Worte fassen und man hat keine Anhaltspunkte, wie man es selbst erzeugen kann. Das macht einen nervös. Diese Tiefe, die sich da andeutet, ist bedrohlich und anziehend zugleich, wie bei dem Brunnen. Und doch ist Yūgen immer da. Die Essenz der Kunst wird uns schon am Anfang unseres Weges präsentiert. Sie ist kein Geheimnis, das mit Absicht verborgen ist. Schon Albert Einstein hat gesagt: "Die Natur verbirgt ihr Geheimnis durch die Erhabenheit ihres Wesens, aber nicht durch List." Nur ganz wenige können diese Qualitäten in sich wecken. Doch glaube ich nicht, dass sie bewusst in einer Art Schritt-für-Schritt-Anleitung erreicht werden können.


Nach Zeami wird man die Meisterschaft in der Kunst des -Schauspiels nur erreichen, wenn man das ernste Studium des in der mittleren der drei Stufen anfängt, also beim seichten Muster. Wie auch die Kampfkünste, hat das -Theater gewisse stilisierte Formen und Bewegungen (jap. Kata). Diese Kata müssen die -Schauspieler und Schauspielerinnen Jahrzehnte lang diszipliniert üben. Anfänglich wirken die Bewegungen der Kata den natürlichen oder besser gesagt gewohnten Bewegungen des Körpers entgegen. Doch das Ziel ist es, Yūgen zu verkörpern. Nach unzähligen Wiederholungen kommt es bei wenigen zum Durchbruch und sie haben diese mysteriöse Anmut im Schauspiel, die man spüren, aber nicht vollständig erfassen kann. Auch wir Budōka üben unsere Formen immer wieder. Nur so können wir tief eintauchen. Nur so werden wir den Geschmack der Form und der Techniken herausarbeiten. Und bei wenigen Kampfkünstlern kann man dieses Besondere schimmern sehen, wenn sie Ihre Form üben. Eine Kampfkunstform alleine ist nur ein leeres, künstliches Gefäß, wenn wir es nicht selbst mit Leben füllen. Wiederholend übend, füllen wir nicht nur die Form mit Sinn, sondern wir füllen uns selbst mit Sinn. Erst dann kann aus einer starren Gussform (jap. Kata 型) eine lebendige Form werden, die nach außen strahlt (jap. Kata 形).


Was tun, um diese unergründliche Tiefe zu erreichen? Für das Plastische bzw. explizit Beschreibbare, kann man Stufen bieten und Unterscheidungen nutzen: z.B. "Wie muss der Vorwärtstritt aussehen?", "Wie muss eine Vorwärtsstellung gemacht werden?" oder "Wie muss der Wurf ausgeführt werden?". Jedoch die Blume, sagt Zeami, "das ist die Person in ihrer inneren Haltung (jap. Ninnai 人内)". Für die Verbindung von Äußerem und Innerem gibt es kein Konzept. Also jahrelang immer wieder die Formen üben und einfach nur darauf hoffen, dass irgendwann der Durchbruch geschieht? Weder das jahrelange Nachahmen der Form, noch das jahrelange Nachahmen von Menschen, die für uns Yūgen verkörpern, bringt uns dabei weiter. Es gibt genug Übende, die Jahrzehnte üben und es passiert nichts. Was tun? Vielleicht werden wir mit unserem Vorhaben scheitern? Vielleicht haben wir nicht die Kapazität, um dorthin zu gelangen? Vielleicht werden wir vorher krank oder verletzt oder sterben? Niemals alleine schaffen wir es nur aus eigener Kraft heraus (jap. Jiriki 自力), sondern sind immer auch abhängig von Glück und Pech, von der Gnade anderer und dem, was uns gegeben ist (jap. Tariki 他力). Wenn Yūgen mein Antrieb ist, welchen Wert haben Formen und die Übung an sich überhaupt, wenn ich nicht weiß, ob ich es jemals erreiche?

Für mich ist die Form mehr, als eine reine Wiederholungsübung mit Hoffnung auf den Durchbruch. Klar: Disziplin haben, dranbleiben, manche Qualen und Anstrengungen meistern. Nicht aufgeben, sondern weitermachen. Und immer wieder Schmieden & Polieren (jap. Renma 練磨). Ohne das geht es nicht. Aber ich spiele auch auf dem Weg und suche Freude in meiner Übung (jap. Dōraku 道楽). Natürlich geht es bei einer Kampfkunst-Kata nie alleine um das reine Wiederholen, sondern um ein umfangreiches Beschäftigen mit der Form (jap. Kata Bunkai 型分解). Aber auch das einfache "Laufen" einer Kata hat für mich einen Sinn im Jetzt. Als bewusste Praxis. Als Ritual. Manchmal für einen guten Start in den Tag. Manchmal um vom Alltagsgetöse Abstand zu nehmen. Und welcher Genuss: An einem nebligen Morgen in den Bergen eine Kata mit anderen zu üben. Gemeinsam im Takt und doch jeder für sich. Noch sind die Berge nicht zu sehen. Doch dann im Laufe der Übung, wenn der Nebel sich etwas lichtet, nur ganz leicht, so dass sich die ersten Sonnenstrahlen zu erkennen geben, kann man einen Blick auf die Berge erhaschen...


Unabhängig von meinen Fortschritten und Rückschritten habe ich in meiner Übung die wunderbare Blume schon gefunden. Ihr müsst Euch Eure eigene suchen.


枯木鳴鵙図. Ein Werk von Miyamoto Musashi.

In der japanischen Malerei und Poesie wurde mit Yūgen das Subtile beschrieben. Yūgen beschreibt die Kraft, etwas in einem wachzurufen, ohne es explizit zu nennen. Ein Bild strahlt Yūgen aus, wenn es mit wenigen Pinselstrichen andeutet, was nicht ausgesprochen werden kann. Alleine die Andeutung weckt starke Gefühle und Gedanken in uns. Ein bisschen wie die Berge des Morgentrainings, die hinter dem Nebel verborgen sind. Auch Sensei arbeiten mit Subtilität. Sie schmieren ihren Schülern und Schülerinnen nicht alles auf ihr Brot. Das Explizite alleine kann nicht zur Meisterschaft in den Künsten führen. Hilfen und Anleitungen zur Übung sind bis zu einem gewissen Grade hilfreich, danach ist man auf sich selbst gestellt. Sensei Werner Lind hat mir mal gesagt, dass er von stark ausformulierten Lehrsystemen nichts halte, denn sie würden nur Mittelmaß hervorbringen. Gute Sensei erklären nicht nur, sondern unterrichten, indem sie tun. Möchte man Kampfkunst erlernen, darf man nicht warten, bis jemand einem etwas direkt zuträgt. Der Unterricht in den Künsten ist immer auch ein Test der Haltung. So müssen der Schüler und die Schülerin ihre Achtsamkeit schulen, so dass sie die Nuancen ihrer Sensei erkennen können und lernen zu erspüren, was unter der Oberfläche liegt. Niemals geht es nur um, das, was da ist, sondern immer auch um das, was fehlt. Dies gilt es zu ergänzen. Nicht nur die Kata sind an sich leere, künstliche Gefäße, auch die Etikette in den Kampfkünsten. Eine Verbeugung (jap. Rei) ist keine Floskel, sondern eine Übung und ein Bekenntnis. Für mich sind sie wertlos, wenn ich sie nicht mit Leben fülle. Etikette können sehr subtil sein. Wenn man es nicht schafft, Kleinigkeiten zu würdigen und zu erkennen, wird man es meiner Meinung nie in die höheren Stufen der Kampfkunst schaffen.


Kommen wir noch einmal zu Zeami: In seiner Schrift Kyūijidai schreibt er, dass die unteren Stufen leicht zu verstehen sind und keine große Sache sind, aber dass wahre Meisterschaft sich dann zeige, wenn der Künstler sich nach der höchsten Stufe, den unteren Stufen hinwendet, um auch das grobe Rohe zu adeln. Die oberen Stufen sind für die meisten Menschen, die wenig Erfahrung in der Kunst haben, kaum ersichtlich und auch nichts Besonderes. Sie müssen erst einmal einen Blick dafür haben, um zu erkennen, welche Qualität dahinter steckt. Das ist wie in einem Konzert für klassische Musik. Die Menschen müssen ein gewisses Verständnis entwickeln, um die Musiker würdigen zu können. Und natürlich muss die Achtsamkeit & der Moment stimmen.


So gesehen kann die Blume für jeden etwas anderes sein. Ein guter Kampfkunstlehrer kann auch jene mitnehmen, denen die Erfahrung oder die Achtsamkeit fehlt. Feinsinnig und roh, dies muss sich nicht ausschließen. Auch wenn das Subtile im Kampfkunstunterricht einen wichtigen Platz hat, manchmal ist die explizite Ansprache genau das Richtige. Warum sollte man nicht explizit einen Ratschlag geben, wenn es andere voran bringt? Rigide Etikette und andere beim Unterricht im Ungewissen lassen, hat nichts mit der Subtilität zu tun, die ich meine. Dies ist eher dafür da, Schüler und Schülerinnen klein zu halten & Menschen in Hierarchien einzuteilen. Guter Kampfkunstunterricht findet immer individuell statt von Herz zu Herz (jap. Ishin Denshin 以心伝心).


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